Samstag, 12. Juli 2014

Die Mär von den Minderheiten in Afghanistan



Mit großem Interesse habe ich den Artikel „Präsidentschaftskandidaten riskieren Bürgerkrieg“ vom 11.07.2014 in der WELT gelesen.

( Siehe Quelltext unten)

So froh ich bin, dass sich die Autorin Sabina Matthay mit ihren Gedanken so intensiv mit der Entwicklung dieser Tage in und um Afghanistan befasst, so fühle ich mich auch dadurch gefordert die meinige Sichtweise hierzu darzustellen.

Die Präsidentschaftswahlen rücken das Land wieder in den Fokus westlicher und deutscher Medien. Wissende, Hintergründe verstehende kundige Journalisten stehen bei ihren Betrachtungen und Analysen des Geschehens dabei Schulter an Schulter mit den oft selbsternannten „Fachleuten“, die ich mit „Express – Pressespezialisten“ bezeichnen könnte – an der Oberfläche nur kratzend, bar erforderlicher Wissenshintergründe und leichtgewichtig dem publizistischem Mainstream folgend. Ihre Visitenkarten sind dabei oft das Nichtbeachten historischer und gewachsener Hintergründe sowie das gedankenlose Nachplappern von unüberlegt verwendeten und oft sehr unpassend übersetzten Begrifflichkeiten wie zum Beispiel die leichtfertig verharmlosende Bezeichnung der menschenverachtend mordenden und marodierenden Taliban als „Aufständische“.

Eine Vielzahl von Veröffentlichungen ist dann entweder durch diese Mängel belastet oder kommt nicht immer zu sachgerechten Darstellungen beziehungsweise Analysen.

Auch in Frau Matthays Artikel sehe ich Anlass zu einer zwingend differenzierenden Bewertung. 

In ihrer Analyse kommt der US-amerikanische Regierungsberater Riedel mit seiner unverbrämten Feststellung, dass „hier etwas einfach nicht stimmt“ zu Wort.

Er begründet u.a. seine Zweifel mit der wundersamen Wählermobilisierung und -vermehrung von bald zwei Millionen zusätzlicher Wahlberechtigten innerhalb von Wochen als die größte „in der Geschichte von Wahlen“ überhaupt. Und das in einem doch vergleichsweise sehr unterentwickelten Land mit noch wenig ausgeprägtem Verständnis von Demokratie und den daraus erwachsenden staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten und, gerade in den paschtunischen Landesteilen, vor dem Hintergrund der Einschüchterungen und der real existierenden Bedrohung durch die terroristischen Taliban hinsichtlich des Urnengangs.

Zur ersten Wahl wurde eine Wahlbeteiligung von rund 6.600.000 wahlberechtigten Wählern angegeben.

Jetzt, zur Stichwahl, geben die Offiziellen trotz einer allgemein rundum wahrgenommen und auch durchweg von den Medien am Tag der Wahl mehrfach dargestellten viel geringeren Wahlbeteiligung die wundersam deutlich höhere Zahl von jetzt 8.100.000 Wählern an.

Hinzu kommen die massenhaft aufgetretenen und mittlerweile von unabhängiger Seite bestätigten, für hiesige Vorstellungen nicht vorstellbaren, Wahlbetrügereien und –manipulationen. So wird amtlicherseits aufgrund konkreter Verdachtsmomente in über 7000(!) der rund 23000 Wahllokalen wegen Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrugs ermittelt – das bedeutet, ohne die darüber hinaus noch zusätzlich zu befürchtende Dunkelziffer, bei fast einem Drittel aller Stimmabgabestellen!

Stelle man sich europäische Verhältnisse und hiesiges Verständnis von Recht und Unrecht vor, so erscheint Frau Mattays Aussage im Teaser „Doch der unterlegene Kandidat Abdullah gefährdet den demokratischen Machtwechsel“ besonders gewagt und auch wenig nachvollziehbar: jeder der beiden Bewerber um Hamid Karzais Nachfolge hat ob der dubiosen Umstände Recht und Anspruch das Ergebnis dieses Wahlgewürges in Afghanistan zu hinterfragen beziehungsweise anzuzweifeln. Den Kandidaten Abdullah jedoch einseitig zu verurteilen und ihn als Wahlverlierer zu manifestieren ist weder gerechtfertigt noch in dieser sich immer mehr aufheizenden Situation angebracht.

Können Sie, Frau Matthay, vor all diesen Fakten wirklich bei Ihrer Äußerung bleiben, dass der Kandidat Abdullah „offensichtlich versucht, eine Niederlage schnell mit Betrugsvorwürfen abzuwenden“?

So wie Sie Herrn Abdullah überaus kritisch („schlechter Verlierer“) destruktives Verhalten vorwerfen, beleuchten Sie den Mitbewerber hingegen sehr viel unkritischer und attestieren ihm sogar „betonte Sachlichkeit“. Es fällt mir an dieser Stelle schwer die leider in mir aufkommenden Zweifel an Ihrer Objektivität zu unterdrücken. Haben Sie denn verdrängt, dass eben dieser Herr Ghani in seinem Wahlkampf unter anderem versprochen hat, dass er, nachdem er bereits dafür gesorgt hatte, dass das Gros der im Gefängnis in Bagram wegen schrecklichster und unmenschlichster Verbrechen inhaftierten Schwerverbrecher bereits schon in die Freiheit entlassen wurden, nach der Wahl auch noch den Rest dieser verurteilten Schwerstkriminellen vor Ablauf ihrer Strafen im Rahmen einer Amnestie entlassen wird?

Wir sollten uns hüten von hier aus vorschnell und vielleicht auch noch auf einem Auge blind Position für einen der beiden Kandidaten zu beziehen und die äußerst fragile Entwicklung des Landes hin zu einer gewaltfreien und prosperierenden Zukunft  nicht noch zusätzlich zu belasten beziehungsweise dadurch in Frage zu stellen.

Auch sehe ich in den von Ihnen als schädlich wahrgenommenen „Großdemonstrationen“ überhaupt nichts Verwerfliches – ganz im Gegenteil: eher ist dies doch ein bisher noch nie dagewesener wichtiger Schritt hin zu einer Demokratisierung und deren politischer Handhabung. Nie zuvor gab es friedliche Demonstrationen diesen Umfangs und unter Beteiligung so vieler ihren politischen Willen ausdrückender Frauen! Wir sollten froh sein, dass, bei aller Polarisierung in der Sache, das Land aufsteht und den Weg der gewaltlosen rechtsstaatlichen gesellschaftlichen Auseinandersetzung sucht und sich darin übt. Was kann es denn Besseres geben als hinzufinden zu einer friedlichen und verantwortungsbewussten Auseinandersetzungskultur, ganz besonders und gerade in einer so archaisch-traditionellen und ethnisch so diversifizierten Gesellschaft!

Auffällig oft vernimmt man landauf und landab in letzter Zeit in Analysen und Kommentaren die Begriffe „Minderheiten“ und „Mehrheiten“. Nutzt man diese Begriffe zur Erklärung und zur Rechtfertigung von Sachverhalten, wie zum Beispiel zu dieser Präsidentschaftswahl, zu Wahlströmungen, zu Anhängerschaften der Kandidaten sowie zu Hegemonialansprüchen einzelner Gruppen, sollte man sich allergrößte Vorsicht und Zurückhaltung auferlegen. Ist doch ja hinlänglich bekannt, dass es bisher in Afghanistan noch nie zu einer belastbaren Volkszählung beziehungsweise zu einer nur annähernd den hiesigen Standards nahe kommende statistische Erhebung gibt.

So sind auch die Interpretation zur Wählerschaft der Kandidaten und zur Legitimation von Ansprüchen in Frau Matthays Darstellungen sehr gewagt. Zweifel insbesondere zu Erklärung des Wählervotums sind mehr als angebracht. Die absolute Vereinfachung auf die Formel Paschtunen wählen Ghani und die tadjikische „Minderheit“ wählt Abdullah ist alles andere als ein belastbares Faktum und sollte daher mit äußerster Skepsis betrachtet werden – so wie es sich für alle Daten und Zahlen im Land empfiehlt.

Auch sollte man mit großer Umsicht und mit großer Zurückhaltung mit den Begriffen „Minderheiten“ und „Mehrheiten“ umgehen. Nicht nur, dass gerade wir hier in Deutschland unter der Schreckensherrschaft der Nazis damit fürchterlichste Erfahrung gemacht haben, nein, damit erschweren wir auch das demokratische und doch so gewollte Zusammenwachsen der Bevölkerung Afghanistans und begünstigen gleichzeitig eine nicht unwahrscheinliche Sezession. Hier gilt ganz besonders: wehret den Anfängen!  

Unser Petitum als kritische Journalisten in und über die Region kann und darf nur das präzise und objektive Beobachten sowie die fundierte Analyse in deutlichen und, wenn nötig, auch in lauten, unüberhörbaren Worten sein – nicht mehr, aber auch nicht weniger. 

 

Nadia Fasel
Quelltext:
http://www.welt.de/politik/ausland/article130026118/Praesidentschaftskandidaten-riskieren-Buergerkrieg.html