Als ich heute früh aus meinem Fenster nach draußen in das fahle
Licht des aufwachenden Tages schaute, sah ich wie stets an jedem anderen Morgen
ein emsiges Treiben. Ich sah fahrende Autos, ich sah die Züge der Eisenbahn,
die Schiffe auf dem Fluss Rhein vor mir und, wie Ameisen gleich, viele Menschen
auf ihrem Weg in den Alltag…
Die Straße und die Grünflächen vor meinem Fenster wirkten wie
frisch gewaschen, der Kehrwagen hatte noch vor der Dämmerung den noch nass
glänzenden Asphalt geputzt, die Stadtreinigung Mülleimer geleert und achtlos
weggeworfenes Papier und Unrat aufgesammelt – alles wirkte frisch und adrett.
Man spürt und sieht die allseitige Bemühung um Ordnung und Sauberkeit und man
fühlt sich wohl und umsorgt dabei. Es tut gut.
Beim Verweilen am Fenster schweiften meine Gedanken hin zu einem
anderen Land, zu einem Land, in dem jetzt genau wie hier heute auch viele Menschen
ihren Weg in ihren Alltag angetreten hatten.
Aber, was ist hier anders als dort – was bedrückt mein gerade noch
so heiteres und unbeschwertes Gemüt an diesem unschuldigen Morgen?
So gut wie nie habe ich die Menschen hier, die ich jeden Tag
treffe und mit denen ich zu tun habe, von „Heimatliebe“ reden hören. Und das,
obwohl gerade hier die Allgemeinheit so auf das Wohlergehen dieses Deutschlands
so achtet und sich um das Bewahren des Geschaffenen so bemüht wie kaum wo
anders.
Aber in dem anderen Land, in dem meine Wiege stand, wird „Heimatliebe“
in den fettesten Buchstaben groß geschrieben. Man lernt dort bereits mit dem
Laufen- und Sprechenlernen im Elternhaus und in der Schule, dass die Menschen
in diesem jenen Land die Ehrenvollsten aller auf dieser unserer Erde waren und
sind.
Es wird einem ohne Unterlass und zu jeder Gelegenheit
eingetrichtert, dass die Menschen in diesem Land Angehörige eines stolzen
Volkes seien; es wird einem bei jeder sich bietenden Gelegenheit beigebracht,
dass Heimat das Wichtigste sei und wir mussten von Kindesbeinen an immer
versprechen, dass wir „unsere Heimat lieben“. Ganz besonderen Beifall und
Zuspruch bekamen wir von den Erwachsenen, wenn wir den Begriff „afghanischer
Stolz“ nachplapperten – afghanischer Stolz, ein Begriff, mit dem ich bis heute
nichts anfangen kann!
Wird doch dort, in diesem anderen Land, „Heimatliebe“ durch
stereotypes Wiederholen dieses Wortes fast gänzlich nur verbal
praktiziert – dabei elementare und vitale Bereiche wie Wohlfahrt für alle, Bildung,
Sauberkeit, Hygiene, Bewahrung des Schönen und des Guten, Schutz der Natur,
Ordnung, Gemeinsinn und Sicherheit sträflichst vernachlässigend.
Hier, in meiner jetzigen Heimat, muss man sich schon sehr, sehr
lange umhören, um überhaupt jemanden von „Ehre“ sprechen zu hören. Auch habe
ich noch nie vernommen, dass hier gesagt wird, dass man durch seine Angehörigkeit
zu diesem Land ehrenvoll sei. Was man hier aber überall und ständig spürt, ist
ein sehr ausgeprägtes Schamgefühl – hier gilt es als unanständig auf Kosten
Anderer und vor allem zu Lasten der Gemeinheit zu leben und sein und das Leben
aller Nachfahren darauf zu bauen. Ein solch parasitäres Verhalten wird mit
großer Verachtung als Schmarotzertum bezeichnet und nirgendwo akzeptiert.
Das andere Land hingegen, in dem Ehre so riesig groß geschrieben
wird und von Ehre dort unablässig geredet wird, lässt sich seit ewigen Zeiten
von den durch das dortige Volk auf goldenen Stühlen inthronisierten
Schmarotzern leiten und führen – das Land, in dem es das Selbstverständlichste
der Welt ist, zu betrügen, zu tricksen und zu hintergehen. In dem man nur an
sich selbst denkt und in dem der Begriff „Gemeinwohl“ inhaltslos und für diese
Ungebildeten und der Zivilisation abseits Stehenden ein Fremdwort ist.
Die Führer in diesem Land, bar jeglicher Kultur und aufgewachsen
außerhalb der Zivilisation, betiteln sich selbst in ihrer tumben, archaischen und
infantilen Selbstherrlichkeit dann als LÖWEN. Dabei aber weniger die diesem
Tier zweifelsohne innehabenden geistigen Fähigkeiten zu gebrauchen als
stattdessen die zerfleischende Kraft deren Zähne und Krallen anzuwenden, mit
denen sie dann auf viehischste Art alle die zerreißen, die nicht zu ihnen
gehören. Ein prähistorisches Gebaren in der Moderne des 21. Jahrhunderts - eine
Perversion der Menschengeschichte, eine Umkehrung der Evolution.
Oh lieber Gott, zwischen meinem Geburtsland und meiner jetzigen
Heimat ist so eine große Entfernung, liegt solch eine große Distanz. Und doch
bin ich in beiden Ländern sehr verwurzelt und habe so große, innige Gefühle für
dort und für hier.
Dort wird das Land meiner Geburt von greisen Löwen geführt, die
vom Fleisch und vom Blut seiner Menschen leben ohne für ihr Leben nur den geringsten Beitrag geleistet zu haben. Es ist die Heimat
meiner Vorfahren.
Hier
hingegen regieren die Menschlichkeit, die Fürsorge, das Streben für das
Gemeinwohl und die gegenseitige Achtung untereinander. Das Intellektuelle und eine
zivilisierte Menschlichkeit statt einer Löwenmähne bestimmen hier Handlung und
das Miteinander. Dieses gelebte Vorbild ist das wichtigste Erbe für meine
Kinder und Kindeskinder und es ist für mich meine mir wertvoll gewordene Heimat.
Ich liebe diese Heimat gleichermaßen wie das andere, das misshandelte und
verblutete Land.
Nadia Fasel, 3. Februar 2014